Rentenbeginn nach Beitragsjahren: Gerechtigkeit mit blinden Flecken

Datum: 08.12.2025

Prof. Dr. Martin WerdingQuelle:Deutsche Rentenversicherung Westfalen Prof. Dr. Martin Werding

Der Vorstoß des Ökonomen Jens Südekum, den Renteneintritt stärker an die Zahl der Beitragsjahre zu koppeln, sorgt bundesweit für Diskussionen. Bei der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Westfalen hat der Wirtschaftsweise Prof. Dr. Martin Werding diesen Vorschlag eingeordnet und vor überhöhten Erwartungen gewarnt: „Die Kopplung des Rentenbeginns an Beitragsjahre ist kein völlig neuer Gedanke. Wenn man sie falsch ausgestaltet, schafft man allerdings neue Ungerechtigkeiten, statt alte zu beseitigen“, sagte Werding vor den Delegierten. 

Südekum will ermöglichen, dass Menschen, die früh ins Erwerbsleben einsteigen, früh in Rente gehen können, während Späteinsteiger gegebenenfalls auch über das Alter von 67 Jahren hinaus arbeiten. Der Berater von Finanzminister Lars Klingbeil hält eine Koppelung des Renteneintritts an die Beitragsjahre für gerechter als eine Verbindung mit der Lebenserwartung. Werding erinnerte in Münster daran, dass es mit der „Rente für besonders langjährig Versicherte“ bereits heute ein solches Instrument gibt. Die Erfahrungen damit seien gemischt: Profitiert hätten vor allem Beschäftigte mit durchgehender Vollzeitkarriere und überdurchschnittlichem Einkommen, benachteiligt würden dagegen häufig Frauen mit Familien- und Teilzeitphasen, Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien sowie Akademikerinnen und Akademiker, die spät in den Beruf einsteigen. „Wer erst mit Ende zwanzig anfängt, Beiträge zu zahlen, kann 45 Versicherungsjahre kaum erreichen, ohne weit über 67 hinaus zu arbeiten“, so Werding. „Was auf den ersten Blick gerecht wirkt, hat schnell blinde Flecken.“ Entscheidend für die Stabilität des Systems sei nicht allein die Zahl der Jahre, sondern die Summe der Beiträge und die Dauer des Rentenbezugs.

Deutlich machte Werding auch: Der harte Kern des Problems liegt in der Demografie. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner wächst deutlich schneller als die Zahl der Beitragszahler. Ohne Kurskorrektur würden die Beitragssätze in Bereiche steigen, die Beschäftigte und Arbeitgeber überfordern. „Das ist keine Meinungsfrage, sondern Demografie“, sagte Werding. „Menschen, die heute Mitte fünfzig sind, werden in 10 bis 15 Jahren in Rente sein. Darauf muss sich das System einstellen, egal, ob wir den Rentenbeginn an Jahre oder an ein fixes Alter knüpfen.“

Der Wirtschaftsweise warnte daher davor, den Eindruck zu erwecken, ein neues Rentenzugangsmodell nach Beitragsjahren könne das Problem im Alleingang lösen. Nötig sei eine Gesamtstrategie. Dazu zählt aus seiner Sicht eine offene, ehrliche Debatte über die Lebensarbeitszeit mit klaren Schutzregelungen für besonders belastende Berufe; ein spürbarer Ausbau der ergänzenden Vorsorge mit einfachen, kostengünstigen Standardprodukten und möglichst automatischer Einbeziehung, damit mehr Menschen tatsächlich zusätzlich sparen, sowie ein besserer Schutz für diejenigen, die lange gearbeitet, aber wenig verdient haben. „Die Idee, Lebensarbeitszeit stärker zu berücksichtigen, ist nachvollziehbar“, fasste Werding zusammen. „Aber wenn wir nur den Eintrittsmodus umbauen, ohne Beiträge, Rentenniveau und ergänzende Vorsorge mitzudenken, verlagern wir Probleme. Wir lösen sie aber nicht.“

Die DRV Westfalen sieht in Werdings Einschätzung einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Debatte. „Der Vorschlag von Jens Südekum zeigt, wie groß der Handlungsdruck wahrgenommen wird“, erklärte Thomas Keck, Erster Direktor der DRV Westfalen am Rande der Vertreterversammlung. „Gerade deshalb ist es wichtig, dass Experten wie Prof. Werding deutlich machen: Es gibt keine einfache Stellschraube. Wir brauchen einen generationengerechten Mix aus verlässlicher gesetzlicher Rente, ergänzender Vorsorge und einer realistischen Vorstellung von Lebensarbeitszeit.“ Die Vertreterversammlung der DRV Westfalen will die Arbeit der geplanten Rentenkommission eng begleiten und sich weiter für tragfähige, verständliche und sozial ausgewogene Lösungen in der Alterssicherung einsetzen.