Deutsche Rentenversicherung

Konstruktiv, kontrovers und (selbst-)kritisch

Fachtagung zum Bundesteilhabegesetz am 7. Februar 2024 in der Deutschen Rentenversicherung Westfalen

Teilhabe in der Diskussion

Nur knapp verfehlt oder meilenweit auseinander? Wie weit Anspruch und Wirklichkeit tatsächlich voneinander entfernt liegen, diskutierten Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, Brigitte Gross, Direktorin der Deutschen Rentenversicherung Bund, Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Verwaltungswissenschaftler Prof. Dr. Harry Fuchs und Dirk Lewandrowski als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) Anfang Februar 2024 in Münster. Zahlreiche Vertreter von Leistungserbringern und der Selbsthilfe ergänzten die Diskussion aus dem Plenum. Eingeladen zu dieser Fachtagung hatte die Deutsche Rentenversicherung Westfalen zusammen mit der Stiftung Teilhabe Münster. Mehr als 100 Expertinnen und Experten aus der Politik, von Leistungsträgern und Leistungserbringern sowie von Sozial- und Betroffenenverbänden kamen in die Hauptverwaltung an der Gartenstraße.

Abhängig vom Wohnort

Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg nahm in seinem Grußwort auf aktuelle Entwicklungen Bezug und betonte die Bedeutung guter Leistungen für die Demokratie. Verena Bentele stellte in ihrer Keynote klar, durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) sei schon einiges erreicht worden, die damaligen Ziele aber noch in weiter Ferne. Als ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung sei sie schon früh in den damaligen Prozess eingebunden gewesen, ebenso wie Prof. Dr. Harry Fuchs, der als einer der Architekten des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX die Intention der Novellierung durch das BTHG vorstellte und nicht mit Kritik an dessen Umsetzung sparte. So seien die Leistungen in der Eingliederungshilfe nach wie vor davon abhängig, wie solvent eine Kommune sei: „Die Leistungen, die ich als Betroffener bekommen kann, hängen davon ab, wo ich wohne. Das ist kein Fake, das gibt es wirklich“, betonte er in einem Video-Einspieler, der im Vorfeld eigens für diese Veranstaltung produziert wurde. Seine Kritikpunkte bildeten dann auch den Auftakt der zentralen Podiumsdiskussion. In deren Verlauf die Spanne zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich wurde. Ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen scheitere zu oft an Trägerstrukturen, uneinheitlichen Leistungen und Intransparenz. Beispielsweise beim gemeinsamen Teilhabeplanverfahren: „Das macht fast keiner“, kritisierte Staatssekretär Schmachtenberg und mahnte Verständlichkeit an. „Ein Teilhabeplanverfahren, das Betroffene nicht verstehen, ist untauglich.“

Gute Leistungen sind wichtig für die Demokratie.

Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg

Bürokratischer Mehraufwand

Bürokratiemonster statt stärkerer Teilhabe? Landesrat Lewandrowski, der im Hauptamt Sozialdezernent des Landschaftsverbands Rheinland ist, bestätigte einen bürokratischen Mehraufwand, stellte aber zugleich die Chancen heraus. Prof. Dr. Fuchs wurde da deutlicher und verortete das Bürokratiemonster insbesondere in der Bedarfsermittlung und machte auch gleich konkrete Vorschläge zu deren Weiterentwicklung. Er stellte den Wert des Bundesteilhabegesetzes an sich heraus und erteilte den Rufen nach einer einheitlichen Behörde eine klare Absage. Dort, wo heute Träger miteinander streiten, würden es dann die unterschiedlichen Abteilungen tun. Verena Bentele zeigte wenig Verständnis dafür, dass auch sieben Jahre nach dem Start des BTHG noch immer zu wenige Träger miteinander kommunizierten. Brigitte Gross sprach von einem Paradigmenwechsel in der Organisation und warb um Verständnis, das brauche Zeit.

Im Spannungsverhältnis von Massengeschäft zu individueller Berücksichtigung komplexer Fälle kam aus dem Plenum die Forderung nach einem verpflichtenden Case-Management auf. Staatssekretär Schmachtenberg erklärte, dass man erstmals im sozialen Entschädigungsrecht gesetzlich ein Case-Management vorsehe.

Auf dem richtigen Weg

Die Personenzentrierung – ein häufig verwendeter Begriff, um die Neuausrichtung der Leistungen nach dem BTHG zu beschreiben – müsse laut Prof. Dr. Fuchs endlich einmal definiert werden, damit es keine leere Worthülse bleibe. In seiner Abschlussbetrachtung ergänzte er einige weiße Flecken. So gäbe es eine Unterversorgung im Bereich der medizinischen Rehabilitation insbesondere für Menschen mit Hör- und Sehbehinderung. Insgesamt stellte Prof. Dr. Fuchs der Rentenversicherung ein gutes Zeugnis aus, man sei bemüht und auf dem richtigen Weg, wenn auch noch nicht am Ziel. Weniger wohlwollend ging er mit der gesetzlichen Krankenversicherung ins Gericht. Dort erinnere man sich an das SGB IX nur, wenn die Zuständigkeitsregelungen für Entlastung sorgten. Insgesamt mahnte er einen Haltungswechsel bei allen Leistungsträgern an: Weg vom Verwalter der Leistungen, hin zum Gestalter von Lebenswelten der Betroffenen.

Ein Teilhabeplanverfahren, das Betroffene nicht verstehen, ist untauglich.

Prof. Dr. Harry Fuchs

Im Austausch bleiben

Muntere Diskussion auf dem Podium, kritische Nachfragen aus dem Plenum. Eine Veranstaltung, in der es allen Teilnehmenden um die Optimierung hin zur vollständigen beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ging. Vor der Optimierung steht bekanntermaßen die Bestandsaufnahme. Einen Teil dessen lieferte die Fachtagung, offen und selbstkritisch. Weitergehen soll der Prozess mit einer Folgeveranstaltung und Detailarbeit, damit die Optimierungen irgendwann auch Gestalt annehmen. Bis dahin heißt es: im Austausch bleiben und den rechtlichen Rahmen des SGB IX zum Wohle der Menschen mit Behinderungen nutzen!

Echte Teilhabe scheitert häufig an der Umsetzung, weniger an der Rechtslage. Grundgedanke und Ausgestaltung des SGB IX erfordern nur kleine Nachjustierungen, entscheidender ist der notwendige Haltungswechsel insbesondere bei den Leistungsträgern, damit Anspruch und Wirklichkeit näher zusammenrücken.

Verwaltungswissenschaftler Prof. Dr. Harry Fuchs, Sachverständiger im Bereich Sozial- und Gesundheitswesen und Architekt des Bundesteilhabegesetzes, gibt Antworten auf Fragen wie „Sieben Jahre Bundesteilhabegesetz: Wunsch und Wirklichkeit. Wo stehen wir?“, „Wie steht es um die Bedarfsermittlung?“ und „BTHG: Erfolgsgeschichte – ja oder nein?“.

Projekt VaTi

Beim Bundesprogramm rehapro werden in verschiedenen Modellvorhaben innovative Maßnahmen, Ansätze, Methoden und Organisationsmodelle im Bereich der Rehabilitation erprobt. Ziel des Programms ist es, Erkenntnisse zu gewinnen, wie die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch besser erhalten beziehungsweise wiederhergestellt werden kann. Ein rehapro Modellprojekt der Deutschen Rentenversicherung Westfalen heißt Verwaltung aktiv – Teilhabe intensiv, kurz VaTi. In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für ambulante Rehabilitation, kurz ZaR, in Münster wird durch das Projekt die Teilhabe von Menschen mit neurologischen Erkrankungen in allen Lebenslagen verbessert. Betroffene und deren Angehörige werden aktiv von Fallmanagerinnen und Fallmanagern angesprochen und betreut. Das Projekt startete im Juli 2022 mit der Rekrutierungsphase zur Gewinnung der Projektteilnehmenden. Der Projektabschluss wird im Oktober 2026 erfolgen.

„Dass ich hier so vor Ihnen stehe, verdanke ich dem VaTi-Team der Deutschen Rentenversicherung Westfalen“, betont Jörg Kuhlow, erster VaTi-Teilnehmer. Im Gespräch mit Sara Schwedmann vom Team der Unternehmenskommunikation der Deutschen Rentenversicherung Westfalen erzählt er seine Geschichte.

Diese Informationen sind Bestandteil des digitalen Jahresberichts für das Jahr 2024. Der Bericht ist am 7. Mai 2025 erschienen.