Die Deutsche Rentenversicherung, der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland und das Deutsche Rote Kreuz haben eine umfassende und unabhängige Untersuchung zur Aufarbeitung des bundesdeutschen Kinderkurwesens zwischen 1945 und 1989 beauftragt. Die Studie hat ein Forschungsteam der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Nützenadel verantwortet.
Das Forschungsteam arbeitete grundlegende Strukturen der Kindererholungskuren auf und ordnete diese in dem nun vorliegenden Forschungsbericht empirisch, sozialrechtlich, historisch und konzeptionell ein. Zum ersten Mal wurde das einstige bundesdeutsche Kinderkurwesen grundlegend und umfassend als Gesamtphänomen untersucht. Dafür haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler historische Dokumente aus rund 60 Archiven analysiert und zahlreiche Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Begleitet wurde die Forschung durch einen Projektbeirat. Diesem gehörten auch Vertreterinnen von Betroffeneninitiativen an.
Zwischen 1951 und 1990 verbrachten laut Schätzung der Autorinnen und Autoren 11,4 Millionen Kinder und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen sowie -heilstätten. Ziel der damaligen Kinderkuren war in der Regel die gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und an frischer Luft. „Auch wenn Kinder und Jugendliche positiv oder neutral von ihren Kuren berichten, war die Realität in den Heimen häufig eine andere. Das Kinderkurwesen erwies sich bis in die 1980er Jahre hinein als sehr beständiges Massenphänomen. Umso schwerer wiegt, dass sich erhebliche strukturelle Missstände ausmachen lassen, unter denen zahlreiche Kurkinder zu leiden hatten", so Professor Nützenadel. Viele Kinder hatten in den Kinderkureinrichtungen keine erholsame oder heilsame Zeit. Sie berichten von mangelhaften räumlichen und hygienischen Bedingungen und davon, dass sie kontrolliert, eingeschüchtert und zum Teil gedemütigt wurden. Manche waren Gewalt ausgesetzt.
Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass es sich bei den Missständen nicht um Einzelfälle handelte, sondern um strukturell bedingte Vergehen in zahlreichen Einrichtungen. Bedingt unter anderem durch häufig fehlende angemessene pädagogische Konzepte, Mangel an pädagogischem Fachpersonal und eine unzureichende Aufsicht gab es über Jahrzehnte Missstände in den Heimen. An vielen Stellen änderte sich daran über lange Zeit nichts, obwohl es entsprechende Hinweise und Beschwerden gab. Ab Mitte der 1970er Jahre läuteten einschneidende sozialpolitische und sozialrechtliche Veränderungen sowie soziostrukturelle Wandlungsprozesse das Ende der damaligen Kinderkuren ein.
Die Initiative Verschickungskinder, die den Forschungsbericht im Beirat begleitet hat, betonte: „In der Untersuchung der Humboldt-Universität zu Berlin wird das zahlenmäßige Ausmaß des Kinderverschickungswesens sehr deutlich. Forschungsergebnisse wie diese sind unverzichtbar, um den Wahrheitsgehalt und die Relevanz der Erlebnisberichte der vielen Betroffenen zu unterstreichen."
Die Deutsche Rentenversicherung, der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz sprechen in Bezug auf die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse ihr großes Bedauern über die damaligen Geschehnisse aus und stellen sich der Vergangenheit. Die Studie sei ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse, mit der man Verantwortung übernehmen wolle.
Gundula Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund: „Das Schicksal ehemaliger Verschickungskinder betrifft auch die Deutsche Rentenversicherung. Mit der vorliegenden Untersuchung wurde erstmals diese Vergangenheit wissenschaftlich aufgearbeitet. Allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Mut aufgebracht haben, ihre Erinnerungen zu teilen und so am Gelingen der Studie mitgewirkt haben, gilt unser aufrichtiger Dank. Diese haben uns tief berührt. Heute sind Kinderschutz, Mitbestimmung und Qualitätssicherung zentrale Grundpfeiler in der Kinder- und Jugendreha der Deutschen Rentenversicherung. Bei allen Fortschritten mahnen uns die Ergebnisse eindringlich, für die Zukunft wachsam zu bleiben.“
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Abschlussbericht zur Studie
Das Forschungsprojekt nimmt das Kinderkurwesen der alten Bundesrepublik für eine mehr als 40-jährige Zeitspanne als Gesamtphänomen in den Blick. Dafür werden historische Entwicklungsphasen sowie grundlegenden Strukturen und Rahmenbedingungen aufgezeigt. Zugleich werden überlieferte und erinnerte Aspekte der Kurpraxis dargestellt und Fallbeispiele ausgewählter Kureinrichtungen genauer untersucht. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, welche Praktiken den negativen Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zugrunde lagen und wie sich diese in die Geschichte des Kinderkurwesens einbetten und erklären lassen. Abschließend werden die drei Wohlfahrtsverbände sowie die Deutsche Rentenversicherung und ihre Vorgängerinstitutionen in ihrer Rolle und Verantwortung als Akteure bei der Durchführung von Kindererholungs- und -heilkuren in den Fokus der Untersuchung gerückt.
Der 800 Seiten starke Abschlussbericht zur Studie steht der Öffentlichkeit, Betroffenen und Forschenden in vollständiger Fassung zur Verfügung.
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One-Pager zur Studie
Der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt umfasst 800 Seiten. Dadurch wird deutlich, dass das damalige Kinderkurwesen in der alten Bundesrepublik sehr komplex und vielschichtig war. Für alle, die sich schnell und fundiert einen Überblick verschaffen wollen, wurden die Ziele und Methoden sowie die zentralen Erkenntnisse und Ergebnisse der Studie kompakt auf einer Seite zusammengefasst.
Heimverzeichnis
Im Rahmen des Projektes wurde ein umfassendes Verzeichnis erstellt, das Kinderkureinrichtungen enthält, die für den Zeitraum von 1945 bis 1989 vom Forschungsteam identifiziert werden konnten. Das Heimverzeichnis umfasst 2.000 Einrichtungen, in denen Kinderkuren in der alten Bundesrepublik stattgefunden haben. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur historischen Aufarbeitung und steht künftig auch als Grundlage für persönliche Recherchen sowie für Anschlussforschung zur Verfügung.
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Fragen und Antworten
Wie ist der aktuelle Stand der Aufarbeitung?
Im Mittelpunkt aller Aktivitäten steht derzeit die historische Aufarbeitung – das ist auch das öffentlich geäußerte Hauptanliegen der bundesweiten Initiative Verschickungskinder. Eine große bundesweite Studie, die seit Ende 2022 an der Humboldt-Universität Berlin erstellt wurde, hat im Mai 2025 ihre Ergebnisse vorgelegt. Auftraggeber sind die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV), die Diakonie Deutschland, der Deutsche Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Im wissenschaftlichen Beirat waren auch Vertreterinnen der Betroffenen.
Daneben wurde die erste überregionale Studie im April 2023 im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit veröffentlicht. Der Fokus der Argumentation von Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl liegt auf den Kinderkureinrichtungen als „totaler Institution“. Des Weiteren existieren etliche kleinere Studien zu einzelnen Einrichtungen.
Die Betroffenen-Initiative führt Lobbying-Gespräche mit Bund, Ländern und Verbänden. Regional gibt es Aktivitäten vor allem in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachen und Schleswig-Holstein; daran sind auch die regionalen Vertretungen von Wohlfahrtsverbänden und Rentenversicherung beteiligt.
Im bundespolitischen Raum sind bislang keine größeren Initiativen erkennbar, allerdings wird die Problematik im Koalitionsvertrag der Bundesregierung genannt.
Welche Dimensionen hat das Thema?
Die Ermittlung genauer Zahlen wird dadurch erschwert, dass in zeitgenössischen Verzeichnissen nicht immer eindeutig zwischen Dauerheimen und Kinderkurheimen unterschieden wird. Das Forscherteam um Prof. Nützenadel hat hier erstmals zahlreiche Daten statistisch ausgewertet. Sie gelangen so zu einer genaueren empirischen Einordnung. Demnach schätzt das Team, dass es zwischen 1951 und 1990 mehr als 2.000 Heime in unterschiedlicher Trägerschaft gab. Nach der HU-Studie durchliefen in diesem Zeitraum zwischen 9,8 und 13,2 Millionen Kinder- und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen (mittlere Schätzung 11,4 Millionen Kinder).
In den Medien wird das Thema fast ausschließlich als ein rein bundesdeutsches Thema behandelt, und die Betroffenen, die sich öffentlich äußern, sind vorwiegend aus der alten Bundesrepublik. Doch auch in der DDR gab es in großem Umfang Kinderkuren, und in den Betroffenenforen melden sich auch Menschen aus Ostdeutschland zu Wort. Dazu liegen allerdings bisher keine systematischen Erkenntnisse vor. Eine erste Untersuchung hat Julia Todtmann mit ihrer Masterarbeit (2022) vorgelegt. Das Kinderkurwesen in der DDR war ein zentralistisches System, das im Zuge des Aufbaus des Sozialismus in den 50er-Jahren etabliert wurde. Maßnahmen und Richtlinien hat das Ministerium für Gesundheitswesen verantwortet, finanziert wurden die Kuren über die Sozialversicherung. In 2024 fand erstmals ein DDR-Kinderkurheim-Kongress im ehemaligen Kinderkurheim „Haus Dahmshöhe“ statt. Im Fokus stehen die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen und die Forschung zu Kinderkuren in der DDR. Weiterhin hat es Kinderverschickungen auch in anderen europäischen Ländern gegeben. Hierzu stehen nähere Forschungen noch aus.
Welche Akteure wurden in der vorliegenden Studie untersucht?
Das Kinderkurwesen der alten Bundesrepublik war durch eine komplexe Struktur von Trägern, Fach- und Interessenverbänden, Entsendestellen und nicht zuletzt durch eine große Zahl von Heimen geprägt. Näher betrachtet wurde das Verhalten zentraler Akteure der Kinderkuren: medizinisches Fachpersonal, Gesundheitsämter, Eltern, Schulen, Krankenkassen, Rentenversicherungen, Aufsichtsbehörden, die Träger der Erholungsheime und das Heimpersonal.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Caritas, Diakonie und Deutsches Rotes Kreuz, die als freie Wohlfahrtsverbände zu den größten Heimträgern zählten. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Deutschen Rentenversicherung und ihren Vorgängern, die nicht nur eigene Einrichtungen unterhielten, sondern vor allem durch die Finanzierung eines erheblichen Teils der Kurmaßnahmen über Jahrzehnte an der Durchführung von Kinderkuren beteiligt waren. Auf andere Träger – etwa die Kommunen, die Krankenversicherungen, Unternehmen und die übrigen Wohlfahrtsverbände sowie die privaten Träger – kann nur am Rande eingegangen werden, obwohl sie für das Kinderkurwesen eine erhebliche Rolle spielten.
Ziel war es, die strukturellen Abläufe innerhalb des Systems mit besonderem Fokus auf die Auftraggeber zu beleuchten. Diese Fokussierung war nötig, um die institutionellen Verantwortlichkeiten der Auftraggeber in der gebotenen Tiefe und Gründlichkeit analysieren zu können. Das schließt aber die Rolle anderer zentraler Träger nicht aus. Vielmehr ist es wünschenswert, dass auch andere Beteiligte und Bereiche systematisch erforscht werden.
Wie wurde die Unabhängigkeit der Studie gewährleistet?
Die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Studie war von Beginn an ein zentrales Anliegen. Obwohl die beteiligten Organisationen (Deutsche Rentenversicherung, Caritas, DRK und Diakonie) die Studie initiiert und finanziert haben, wurde die Forschung von einem unabhängigen wissenschaftlichen Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Alexander Nützenadel, Humboldt-Universität zu Berlin, durchgeführt. Zur Sicherstellung der Unabhängigkeit wurden folgende Maßnahmen ergriffen:
- Vergabe nach wissenschaftlichen Standards: Die Forschungsgruppe wurde über ein Ausschreibungsverfahren ausgewählt, das die fachliche Qualifikation und Erfahrung der Forschenden in den Mittelpunkt stellte.
- Wissenschaftliche Verantwortung: Die beteiligten Träger hatten keinen Einfluss auf die Methodik, Datenerhebung, Auswertung oder Interpretation der Ergebnisse. Alle wissenschaftlichen Entscheidungen lagen ausschließlich bei den Forscherinnen und Forschern.
- Begleitgremium: Ein unabhängiges Gremium aus Wissenschaft, Betroffenenvertretung und Ethikexpertise begleitete die Studie kritisch und überprüfte die Einhaltung wissenschaftlicher Standards.
- Transparente Veröffentlichung: Die vollständigen Ergebnisse werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, unabhängig davon, ob sie für die Trägerorganisationen belastend sind oder nicht.
Uns ist bewusst, dass die eigene Verstrickung in das historische Geschehen einen besonderen Anspruch an Offenheit und kritische Selbstreflexion bedeutet. Die Wahrung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit war daher oberstes Gebot in allen Phasen der Studie.
Wie wurden die Betroffenen in die Studie eingebunden?
Die vier Auftraggeber haben dafür Sorge getragen, dass die Perspektive der Betroffenen hinreichend Niederschlag im Forschungsprojekt findet. Zu den Zeitzeugen, die von den Historikern der Humboldt-Universität befragt wurden, gehörten selbstverständlich auch Betroffene. So erfolgte der Aufruf nach Erinnerungsberichten unter anderem über die Webseite und den Newsletter der Initiative der Verschickungskinder e.V. Darüber hinaus haben mit Anja Röhl und Prof. Dr. Christiane Dienel zwei Vertreterinnen der Initiative im wissenschaftlichen Beirat des Forschungsprojekts mitgewirkt.
Die Auftraggebenden nahmen zudem seit 2021 an den Bundeskongressen der Initiative teil, um mit Betroffenen in den Austausch zu treten. Auf dem letzten Kongress 2024 hat das Forscherteam der HU das Projekt vorgestellt, und es wurden zwei Gesprächskreise mit Betroffenen, Forschenden und Vertretern trägerfinanzierter Forschung durchgeführt.
Was sind die Unterschiede zwischen den Kinderkuren der 1950er bis 1970er Jahre und der heutigen Rehabilitation für Kinder- und Jugendliche?
Seit den 1950er Jahren hat sich das Verständnis von Erziehung und Gesundheitsförderung tiefgreifend geändert. Das Wissen darüber, dass chronische Erkrankungen und Belastungen eine gezielte Therapie und eine kindgerechte und bindungssensible Betreuung benötigen, ist seither auch in der Kinder- und Jugendmedizin deutlich gewachsen. Ab den 1980er Jahren entwickelte sich daraus das heutige Konzept der Eltern-Kind-Kuren und der Kinder- und Jugendlichen-Rehabilitation – d.h. eine wissenschaftlich fundierte, spezialisierte Form der medizinischen Versorgung für junge Menschen.
Die heutige Kinder- und Jugendreha unterscheidet sich grundlegend von den Leistungen des damaligen Kinderkurwesens: Sie ist medizinisch indiziert, freiwillig, transparent und auf dem Stand moderner Kinder- und Jugendmedizin. Eltern werden von Anfang an einbezogen, es gibt bundesweit einheitliche Qualitätsanforderungen, zertifizierte Reha-Einrichtungen und ein strukturiertes Beschwerdemanagement.
Wie stellt die Deutsche Rentenversicherung sicher, dass sich derartige Missstände nicht wiederholen?
Die Deutsche Rentenversicherung verfügt über ein engmaschiges System zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendlichenrehabilitation, das darauf ausgerichtet ist, Schutz, Wohlbefinden und Beteiligung der jungen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sicherzustellen. Die Einrichtungen müssen sich an klaren medizinischen, pädagogischen und organisatorischen Kriterien messen lassen. Um Missstände konsequent zu verhindern, greifen mehrere Maßnahmen, die verbindlich vorgeschrieben und regelmäßig überprüft werden, z.B.:
- Alle Einrichtungen müssen über ein anerkanntes Qualitätsmanagementsystem verfügen (z.B. QMS-Reha) und sich regelmäßig auditieren lassen. (weitere Informationen finden Sie hier)
- Alle Reha-Einrichtungen müssen definierte Strukturanforderungen erfüllen, die einheitliche Standards an die personelle, räumliche und medizinisch-technische Ausstattung vorgeben (siehe auch www.reha-qs-drv.de)
- Die Ergebnisse der Reha-Qualitätssicherung sind im Webportal www.meine-rehabilitation.de öffentlich einsehbar und wirken sich auch bei der Zuweisung in geeignete medizinische Reha-Einrichtungen aus.
- Jede Einrichtung muss ein Schutzkonzept vorweisen, das Maßnahmen zur Prävention und Intervention bei Verdachtsfällen von Gewalt beschreibt.
- Mitarbeitende werden regelmäßig zu Themen wie Kinderschutz, Deeskalation und Kommunikation geschult. Neue Mitarbeitende erhalten verpflichtende Einführungen zu diesen Standards.
- Eltern oder andere Sorgeberechtigte werden aktiv in den Reha-Prozess einbezogen.
Sind weitere Studien geplant?
Die geschichtswissenschaftliche Studie ist ein wichtiger Schritt zur systematischen Aufarbeitung des damaligen Kinderkurwesens in der alten Bundesrepublik. Sie schafft eine fundierte Grundlage, auf der weitere wissenschaftliche Arbeiten aufbauen können, etwa zur Erforschung von Langzeitfolgen.
Ein zentrales Ergebnis des Projektes ist auch das entstandene Heimverzeichnis, das über 2000 Einrichtungen dokumentiert, in denen damalige Kinderkuren stattgefunden haben. Es dient nicht nur als Recherchegrundlage für die Wissenschaft, sondern kann Betroffenen auch helfen, ihre eigenen Erfahrungen zeitlich und örtlich einzuordnen.
Ob und in welchem Rahmen Anschlussforschung erfolgt, liegt nun auch in der Verantwortung anderer Akteure, etwa von Bund, Ländern, Universitäten oder Stiftungen.
Wie reagieren Bund und Länder?
Die Bundespolitik reagierte von Anfang an zurückhaltend. Das BMBF hat einen eigenen Forschungsantrag der Initiative abgelehnt, und auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat sich bisher nicht klar zu einer Unterstützung bekannt, nachdem Ministerin Franziska Giffey (SPD) m Frühjahr 2020 erklärt hatte, einen Vorstoß der Länder zu prüfen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen wurde das Thema durch einen Antrag der SPD-Fraktion aufgegriffen; daraufhin wurde in NRW ein Runder Tisch Kinderverschickungen eingerichtet.
Auf Initiative von Landesregierungen (Baden-Württemberg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) hatte sich die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) am 27. Mai 2020 mit dem Thema befasst. In einem Beschluss erkennt die Konferenz das Leid an. Es zeige sich, dass es sich um ein bundesweites Phänomen gehandelt habe, an welchem verschiedenste Institutionen beteiligt waren. Die Minister erzielten Einigkeit, "dass die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen, strukturellen, individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umfassend aufgeklärt werden müssen". Der Sozialminister Baden-Württembergs, Manfred Lucha (B90/Grüne) äußerte sich gegenüber der ARD, dass die Selbstorganisation und die Aufarbeitung aus öffentlichen Mitteln gefördert werden sollen. Bislang ist eine solche institutionelle Förderung nur aus Baden-Württemberg und NRW bekannt.
Die Forderung nach Aufarbeitung der Kinderverschickungen ist mittlerweile Teil des aktuellen Regierungsprogramms geworden. In Zeile 3212/3 des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD heißt es: "Wir unterstützen die Aufarbeitung der Misshandlungen von Kindern bei Kuraufenthalten zwischen 1950 und 1990 durch die ‚Initiative Verschickungskinder‘."