Stellungnahme zum Artikel der Welt vom 4. August 2022 mit dem Titel: „Junge Generation sollte gegen Rentenpolitik klagen“ von Constantin van Lijnden, in dem der Autor ein kritisches Bild von der gesetzlichen Rentenversicherung zeichnet. Dies wollen wir als DRV nicht unwidersprochen lassen.
„Die Rente in Gefahr“ schreibt schon der Spiegel 1985, und weiter: „Wer trägt die Last im Jahr 2000, wenn immer weniger Beitragszahler immer mehr Ruheständler ernähren müssen?“ Seither wird immer wieder beschworen, dass die Rentenversicherung wegen des demografischen Wandels auf eine Katastrophe zusteuere – so wie auch jetzt wieder in Ihrem Beitrag. Fakt ist aber: Die Renten waren trotz völlig unerwarteter Ereignisse – Deutsche Einheit, Finanzkrisen, Corona – stets finanzierbar. Und obwohl die Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gealtert ist – 1985 kamen auf 100 Menschen im Erwerbsalter zirka 24 Menschen im Rentenalter, heute sind es rund 36 – ist der Beitragssatz heute niedriger als damals.
Es hat sich gezeigt, dass die demografische Entwicklung allein nicht ausschlaggebend ist für das Funktionieren der Rentenversicherung: Unter anderem die erheblich erhöhte Erwerbsbeteiligung – insbesondere von Frauen und von älteren Arbeitnehmern – oder die gerade in den letzten Jahren erhebliche Zuwanderung von jüngeren Menschen aus anderen EU-Ländern (und deren erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt) haben dazu geführt, dass die Zahl der Menschen im Erwerbsalter heute zwar geringer ist als vor 30 Jahren, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aber um rund 3 Millionen höher als damals. Zudem haben auch die in dieser Zeit durchgeführten Rentenreformen wesentlich dazu beigetragen, dass die demografischen Veränderungen nicht zu einer höheren Belastung für die Erwerbsgeneration geführt haben. Das zeigt: Die Rentenversicherung ist anpassungsfähig – und es spricht nichts dagegen, dass sie es auch in Zukunft bleibt. In Ihrem Beitrag werden insbesondere drei Themenfelder herausgehoben: Die Forderung nach Anhebung der Regelaltersgrenze, die Entwicklung der Bundeszuschüsse und die Frage der Übertragbarkeit des „Nachhaltigkeitsurteils“ des Bundesverfassungsgerichts auf die Rentenversicherung. Hierzu ist aus unserer Sicht Folgendes anzumerken:
- Die Regelaltersgrenze wird derzeit schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Diese Anhebung wurde 2007 beschlossen und ab 2012 ungesetzt; sie wird 2031 abgeschlossen sein. Ob und in welcher Weise nach 2031 eine weitere Anhebung sinnvoll und notwendig ist, wurde beispielsweise in der Rentenkommission intensiv beraten. Die große Mehrheit der Kommissionsmitglieder – Politiker, Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie auch zwei der drei Wissenschaftler in der Kommission – empfehlen im Kommissionsbericht, dass erst im Jahr 2026 darüber entschieden werden sollte, wie die Altersgrenzen nach 2031 gestaltet werden; man empfiehlt also den gleichen zeitlichen Vorlauf wie beim Beschluss der Altersgrenzenanhebung auf 67 Jahre. Nur einer der drei Wissenschaftler in der Kommission sprach sich dafür aus, bereits jetzt über eine weitere Anhebung der Altersgrenze zu entscheiden. Von einer „einhelligen Reaktion der Wirtschaftsexperten“ auf entsprechende Forderungen kann also nicht die Rede sein.
- Die Aussage, schon heute würden die Rentenbeiträge nicht ausreichen, um die laufenden Kosten zu decken, weshalb der Staat jedes Jahr etwa 100 Milliarden Euro aus Steuereinnahmen zuschießen müsse, ist in zweifacher Weise irreführend. Zum einen handelt es sich bei dem genannten Betrag zum erheblichen Teil um Beitragsmittel, nämlich um Beiträge für Kindererziehungszeiten. Vor allem aber ist der Zuschuss des Bundes als Kompensation dafür zu sehen, dass der Gesetzgeber die Rentenversicherung zur Zahlung von Leistungen verpflichtet hat, für die keine Beitragszahlungen erfolgt sind. Die Finanzierung dieser nicht-beitragsgedeckten Leistungen durch Steuermittel ist sachgerecht.
- Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Nachhaltigkeitsurteil“ festgestellt, dass ein Unterlassen von Maßnahmen im Klimaschutz verfassungsrechtlich nicht zulässig ist, wenn es zu unumkehrbaren Freiheitseinschränkungen in der Zukunft führt. Im Hinblick auf die Rentenversicherung ist dies aber gerade nicht der Fall. Zwar ist der demografische Wandel selbst nur begrenzt veränderbar – zum Beispiel durch Zuwanderung –, die Auswirkungen auf die Rentenversicherung sind jedoch in vielfältiger Weise zu beeinflussen. Dies beweist bereits der Blick auf die erheblichen demografischen Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten, die, wie oben beschrieben, gerade nicht zu einer unumkehrbaren Freiheitseinschränkung der heutigen Beitragszahler geführt haben. Anders als hinsichtlich der globalen Klimabedingungen sind – gerade in einem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem – auch in Zukunft jederzeit Rechtsanpassungen möglich, um eine nicht akzeptable Freiheitseinschränkung einer Generation zu vermeiden. Insofern kann das Urteil sicher nicht auf die Rentenversicherung übertragen werden.